Das europäische Modell
Franz Rieder • Europa in der Krise, Alexis tanzt, Leben an den Ufern des Acheron
(nicht lektorierter Rohentwurf) (Last Update: 01.07.2019)
Europa ist in der Krise. So sagt man überall, hört man von allen Seiten. Deshalb gehört der Absatz über das europäische Modell auch genau an diese Stelle der Philosophie des menschlichen Daseins. Die europäische Krise bewegt seit dem Jahr 2010 Millionen von europäischen Bürgern und eine ungeschätzte Zahl außerhalb Europas weltweit. Wenn wir den Beginn der Krise ins Jahr 2010 legen und damit den Ausbruch der griechischen Staatsschuldenkrise datieren, ist das nicht ganz willkürlich, gleichwohl der Anfang der Krise weit hinter diesem Datum zurück liegt.
Aber dieses Datum 2010 scheint alle die wesentlichen Vorgänge zu versammeln, die etwas Neues in einer alten Geschichte vorstellen, einen Einschnitt gewissermaßen, der damit einen neuen Anfang markiert, nämlich die Möglichkeit, dass westliche Industriestaaten pleitegehen können. Und so viel schon vorab; Griechenland zeigt, dass, wenn wir einen scheinbar ökonomischen Diskurs führen, insofern es ja durchaus um eine Pleite im ökonomischen Sinn geht, die Gründe in diesem Diskurs durchaus als hochgradig verschleiert gelten dürfen. Denn eins hat die Beinahe-Pleite des Ägäis-Staates bewiesen: Pleiten müssen nicht ökonomisch, sondern können durchaus auch politisch begründet sein.
Aber kurz zurück zu der Idee des europäischen Modells, die aus der Erfahrung zweier Weltkriege auf europäischem Boden - die unzähligen Kriege vorher lassen wir einmal an dieser Stelle unberücksichtigt - entstand. Das moderne Europa begann mit der Begegnung von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer im September 1958, dreizehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, und stand unter der Leitidee: Deutsch-Französische Freundschaft. De Gaulle war seit einigen Wochen französischer Ministerpräsident und hatte in einer demonstrativen Geste den deutschen Bundeskanzler in sein privates Landhaus nach Colombey-les-deux-Églises eingeladen, etwas, was er nie zuvor einem anderen Politiker hat zuteilwerden lassen und auch nach diesem Treffen unterließ.
Das europäische Modell, über das wir hier handeln, begann gewissermaßen mit einem Ende, dem Ende von Kriegen, Konflikten und zahllosen, wechselseitigen Demütigungen zwischen Frankreich und Deutschland, das 1945 al völlig unvorstellbar erschien. Unvorstellbar, dass Deutschland und Frankreich jemals eine Friedensweg würden einschlagen können. Um so überraschender war, dass bei den nach 1962 erfolgten Besuchen De Gaulles und Adenauers im jeweiligen Nachbarland bei beiden Bevölkerungen so viel Begeisterung auslösten. Und es waren eben die Aussicht auf ein Ende der Feindschaft zwischen beiden Staaten und die Möglichkeit einer konstruktiven Versöhnung, die die Bürger beider Länder auf den Straßen zum Ausdruck brachten, die zu den berühmten, gleichnamigen Verträgen geführt hatten, die dann am 22. Januar 1963 im Élysée-Palast in Paris von beiden Staatsoberhäuptern unterschreiben wurden.
Die Élysée-Verträge bildeten und bilden bis heute die Grundlage für die deutsch-französischen Freundschaft und sind zugleich die Grundlage für den Frieden in Europa. Das sollte man nicht vergessen und daran hielten sich auch fast alle nachfolgenden Staatsoberhäupter von Frankreich und Deutschland: Kohl und Mitterrand, Schröder und Chirac, Merkel und Sarkozy bzw. Hollande und Macron.
Deutsche Volkswirte, von Fuest1 bis Sinn2 , würdigen diese Geschichte stets, auch wenn es um die Analyse scheinbar rein volkswirtschaftlicher Themen in Europa geht; Sinn hat die Idee sogar im Titel seines neuesten Buches: Der Euro - Von der Friedensidee zum Zankapfel. Diese Friedensidee steht also am Anfang des modernen Europas und dieser Anfang ist bestimmt als ein Anfang und Fortbestand zweier Nationen, wobei die eine, Deutschland, eigentlich ihre staatliche Autonomie und politische Selbstbestimmung 1945 verloren hatte. Deutschland stand unter dem Viermächtestatus, als es den europäischen Friedenprozess begann und erlangte über die Aussöhnung mit Frankreich einen quasi-autonomen Status in Hinblick auf die Integration in die europäische Staatengemeinschaft und europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Die alliierten Siegermächte, also auch die USA und Großbritannien ließen Deutschland und Frankreich gewähren.
Der europäische Friedenprozess ist bis heute nicht abgeschlossen und stand immer unter der militärischen Schirmherrschaft der USA und der Nato. Dies ist deshalb wichtig, weil die europäische Integration bis heute, vor allem, wenn man die baltischen Staaten und Osteuropa hinzunimmt, nicht ohne die USA hätte stattfinden können; damals im Jahr 1990, als am 3.Oktober der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland vollzogen worden war, waren beide Voten, das der USA und von der damaligen Sowjetunion notwendig, wenn gleich die Stimmen aus England und Frankreich sicherlich die Wiedervereinigung hätten erschweren, aber kaum gegen die beiden militärischen Großmächte hätten verhindern können.
Das moderne Europa mit den baltischen Staaten, Polen, Teilen des ehemaligen Jugoslawien sowie den ehemaligen Balkanstaaten, die auf dem Weg in die EU sind, begann als ein Friedensprozess, dessen grundlegende, politische Bestimmung in der Souveränität jedes einzelnen Mitgliedstaates der EU zu finden ist. Zum Frieden der Völker gehört wesentlich deren Recht auf Selbstbestimmung. Das wird jenseits des Atlantiks mühelos übersehen, wenn es um Good Old Europe und dessen Versuch einer Wirtschafts- und Währungsunion geht. Dann spricht man gerne davon, dass eine Währungsunion, ohne eine politische Union oder eine Art Zentralstaat nicht funktioniere; was für ein Blödsinn. Und selbst wenn es sich herausstellte, dass der Euro wie die EU den Bach runtergehen, wäre es Unsinn, den Versuch nicht zu wagen, und Blödsinn, bereits jetzt darüber zu räsonieren und zu urteilen, wo der Prozess weder abgeschlossen ist, noch Glaskugel-Volkswirte wie Francis Fukuyama überhaupt wissen können, wie ein solcher Versuch ausgeht.
Krisenpropheten, denen der Verkauf ihrer mit waghalsigen Thesen und in der Regel unterdurchschnittlich informierten Spekulationen über Europa (und die Welt) nur so gespickten Bücher offensichtlich zentral am Herzen liegen, erwähnen wir hier nur, um deutlich zu machen, dass das europäische Modell ein Experiment ist, von dem niemand, weder in Europa noch unter solchen Thesentouristen weiß, wie es zuende gehen wird.
Das europäische Experiment - übrigens; so waghalsig wie oft gemeint, ist es gar nicht - kann und muss auf der Autonomie der Mitgliedsstaaten aufbauen und hat damit eine Grundbedingung, die jede Form von politischer Entscheidung als eine im eigenen wie im Gemeinsinn zu treffen hat; nichts ist politisch schwieriger als das.
Neben der Grundlage autonomer Entscheidungen der Staaten steht die Einhaltung der Aufnahme- bzw. Beitrittskriterien in die EU als gleichwertige Grundlage dieses Experiments. Diese sog. "Kopenhagener Kriterien müssen alle Staaten erfüllen, die der EU beitreten wollen:
Das "politische Kriterium": Institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten.
Das "wirtschaftliche Kriterium": Eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten.
Das "Acquis-Kriterium": Die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen das heißt: Übernahme des gesamten gemeinschaftlichen Rechts, des "gemeinschaftlichen Besitzstandes" (Acquis communautaire)3 .
Diese Beitrittsbedingungen setzten als Grundbedingungen und nicht als gegebene Voraussetzungen auf einen, in den einzelnen Beitrittsstaaten in Gang gesetzten, politischen Integrationsprozess, der auch die Mitgliedsstaaten jederzeit zur Anpassung aus Vernunft anhält, ist also kein starrer, vorgegebener Prozess, sondern ein lebendiger Integrationsprozess.
Das ist er auch allein schon deshalb, weil ein Beitritt nicht nach starren Kriterien, sondern nach in die Einzelstaaten hin offenen, d.h. an diese staatlichen Besonderheiten angepassten Bedingungen vonstattengeht. Jedes Beitrittsabkommen ist also zunächst zu unterscheiden von einem Vertrag im völkerrechtlichen Sinne.
"Die Bedingungen für die Beitritte werden grundsätzlich in Abkommen festgelegt. Diese Beitrittsabkommen werden zwischen der Union und den Beitrittskandidaten kapitelweise ausgehandelt. Derzeit sind dies 35 Kapitel, die alle Rechtsbereiche umfassen. Bestandteil der Abkommen sind meist Übergangsregelungen, um den Beitritt eines Landes für beide Seiten verträglich zu gestalten. Diese Verhandlungen dauern normalerweise mehrere Jahre.
Die EU-Kommission legt jährlich so genannte Fortschrittsberichte vor. Darin wird der Stand der Verhandlungen und die Entwicklung des Beitrittskandidaten in Bezug auf die Anpassung an die EU-Anforderungen beschrieben.
Das Europäische Parlament muss zunächst den Beitrittsabkommen mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder zustimmen. Danach muss der Rat zustimmen, und zwar einstimmig. Die Unterzeichnung der Abkommen obliegt dann den Staats- und Regierungschefs der EU und der Beitrittsländer. Jedes Beitrittsabkommen muss als völkerrechtlicher Vertrag von den EU-Mitgliedstaaten und den Beitrittsländern gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften "ratifiziert" werden. Mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden ist das Beitrittsverfahren abgeschlossen und die Abkommen treten in Kraft. Das Beitrittsland wird dann zum Mitgliedstaat."(2019 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)
Man kann also kaum von einem grundsätzlichen Hasardeurtum sprechen, wenn man den Prozess des Beitritts zur EU bis zur völkerrechtlich bindenden Ratifizierung des Beitrittsvertrages vor Augen hat - ebenso wenig ist ein "Austrittsvertrag" wie aktuelle im Falle des Brexits ein beliebig verhandelbares Kompendium; wie kommen darauf zurück. Mit dem Acquis-Kriterium ist ein weitreichender, aber zeitlich offener Integrationsprozess aller bestehender Mitgliedsstaaten in Gang gesetzt im Gegensatz zu den politischen wie ökonomischen Kriterien, die Voraussetzungscharakter haben.
Natürlich erscheint vielen das wirtschaftliche Kriterium als ein Widerspruch zur staatlichen Autonomie und dies nicht ganz zu Unrecht. Wenn es den einzelnen Staaten im europäischen Modell anheimgestellt bleibt, z.B. autonom über ihre Steuergesetzte zu entscheiden, dann kann sich allein daraus schon eine enorme Spannung unter den Mitgliedsstaaten ergeben, die bei oberflächlicher Betrachtung das Potenzial zur Krise bzw. Zerreißprobe des Zusammenhalts hat. Fiskalpolitische Alleingänge wie wir sie in Irland und den Niederlanden kennenlernen durften, werden nicht unerwähnt bleiben. Und immer wieder konfrontieren gerade die USA aus Kreisen der Ökonomik das europäische Modell gerade in diesem Punkt: Die Krise der EU hat eine ihrer Ursachen in der uneinheitlichen Steuerpolitik der Länder und wird sich deshalb in Zukunft sogar noch weiter verschärfen. Stimmt das?
Europa in der Krise
Es gab eine Zeit, da sprach die Welt vom Euro als einer Weltwährung neben dem US-Dollar. Der Euro erreichte den Kurs von 1,59 und das war genau am 17.März 2008. Das war nach dem Ausbruch der Finanzkrise, gerade einmal zwei Jahre bevor der Euro mit der Staatskrise Griechenlands zur Krisenwährung wurde. Damals fuhr man aus Europa in die USA und es war wie früher, als die Amerikaner nach Deutschland oder Italien reisten und alles dort so preiswert für sie war.
Das war die Zeit, als es in Europa auch keine einheitliche Fiskalpolitik gab. Das war, als anscheinend die internationalen Finanzmärkte nicht nur Vertrauen in den Euro hatten, sondern in der EU auch ein riesiges Potenzial für Investitionen sahen; und man investierte in alles was sich bewegte und nicht bewegte. Europa war keine politische Einheit und niemand schien sich daran zu stören, dass das so war; im Gegenteil. Dieser Wirtschaftsraum aus souveränen Staaten mit dem Europarat, dem Parlament und den Räten und Kommissaren schien ein durchaus funktionierendes Gesamtkonzept zu sein, dass im Prozess der Globalisierung eben genau das versprach und bewies, dass das, worauf es fortan ankommt, gelingen kann, eine Form der ökonomischen Kooperation nach innen, also im europäischen Binnenmarkt und nach außen als ein Partner für andere Staaten und Wirtschaftszonen, sogar über die politischen Grenzen hinweg nach Russland und China.
Es gab frühzeitig Warnungen von Volkswirtschaftlern, dass dieses Prinzip der autonomen Partnerschaft nicht funktionieren kann. Aber was waren im Kern die Kritikpunkte? Im Jahr 2011 warnten 189 Wirtschaftsprofessoren vor der geplanten Ausdehnung des Euro-Rettungsschirms und dessen fatalen Folgen. Was in der deutschen Regierung als "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit" veröffentlicht wurde, nämlich der Plan der europäischen Finanzminister, den Euro-Rettungsschirm auszudehnen und einen dauerhaften Rettungsmechanismus (ESM) einzurichten, stieß bei den Ökonomen auf lauten Widerspruch.
Es war, rückblickend formuliert, die sog. Griechenlandkrise und die Versuche deren Bewältigung durch die Rettungsschirme und die EZB, die für die Professoren eine "fatale Langfristwirkungen für das gesamte Projekt der europäischen Integration" in sich barg. An vorderster Stelle stand dabei der der Ankauf hochriskanter Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB), der mehr als den Ruf und die Unabhängigkeit der Zentralbank im Kern zu schädigen drohte.
Die Ökonomen sahen in der EZB ein Vehikel für eine dauerhafte Garantie der EU gegenüber eigentlich bereits insolventen Staaten, deren Verschuldungsgrad weit über die vereinbarten sechzig Prozent des BIPs angewachsen war mit zudem steigenden Tendenzen. Die "negativen Folgen" dieser Haftungsgarantien der europäischen Staatengemeinschaft im Verein mit den durch diese Staatengemeinschaft auf den Finanzmärkten eingeräumten günstigen Kreditkonditionen würden die Fehlallokation einiger Schuldenstaaten, allen voran Griechenland und Italien, aber auch Spanien und Portugal munter in die Zukunft fortschreiben.
Fehlallokationen aber waren und sind die Staatsschulden insgesamt und die munteren, nicht gegenfinanzierten Wahlgeschenke der griechischen und italienischen Regierung, die die Nichtbeistands-Klausel4 , resp. No-Bailout-Klausel, auszuhebeln drohten. Es ging also konkret um die sog. Lissabon-Ergänzung, die die Schaffung des ESM ermöglichte und die Non-Bailout-Klausel relativierte.
Warum aber wurde eine so weitreichende Ergänzung bzw. Veränderung der europäischen Staatengemeinschaft in Richtung einer europäischen Haftungsgemeinschaft vollzogen? Wir müssen ein wenig zurückschauen. Aus dem Friedensprojekt wuchs allmählich ein europäischer Wirtschaftsraum hervor, ein gemeinsamer Markt, dessen Gemeinsamkeit aber auch hier in allen ökonomischen Angelegenheiten die Idee der Autonomie war. Kein Staat sollte den anderen in der Gemeinschaft in eine wirtschaftspolitische Abhängigkeit bringen. Damit übertrug die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) jene marktwirtschaftliche Asymmetrie, die mit jeder Form von Marktwirtschaft im Kern mitgegeben ist, auf das neue Gebilde. Aber was in der Wirtschaft als Wettbewerb funktioniert, weil der Markt zugleich den Wettbewerb wie dessen Grenzen bestimmt, funktioniert im staatspolitischen Wettbewerb nicht.
Der staatspolitische Wettbewerb transferierte den alten Satz von Adam Smith, wonach, wenn jeder an sich denkt, nutzt das der Gemeinschaft, mit der Zeit und der zunehmenden politischen Integration auf die EU. Jeder Staat der EU machte also seine autonome Wirtschaftspolitik, zu förderst war das Schuldenpolitik, was laut Statuten und Geist der EU auch möglich war, solange die Nicht-Beistandsklausel griff.
In der Wirtschaft führen expansive Schulden zur Überschuldung und letztlich zum Exit des illiquiden Unternehmens aus der Marktwirtschaft, wenn kein Investor rechtzeitig beispringt und das Unternehmen übernimmt. So etwas funktioniert in der Politik unter Staaten in einer Gemeinschaft nicht.
Was in Teilbereichen der Wirtschaft zunehmend eine Form der gegenseitigen Abhängigkeit annimmt, wenn Wertschöpfungsketten unternehmens- und länderüberschreitend auf- und ausgebaut werden und auf diese Weise aus wechselseitigen Abhängigkeiten eine Art 'harmonischer' Ordnung entsteht, in der strukturelle Asymmetrien wie etwa der marktwirtschaftliche Wettbewerb in kooperative Formen des gemeinsamen Wirtschaftens transformiert werden, erwies sich im politischen Handeln als Katastrophe.
Die staatspolitische Eigenliebe mancher EU-Staaten nahm solche Formen der gemeinschaftsschädigenden Vorteilsnahme an, dass Griechenland als erster Staat vor dem Exit aus der EU stand. Und die Wirtschaftsprofessoren sahen sich bestätigt, allen voran zu Anfang Luck und Henkel, dass sich die deutsche akademische VWL sich mit überwältigender Mehrheit einig ist, gegen die Rettungsmechanismen der Euro-Politik zu votieren. Lucke und Henkel gingen darüber hinaus so weit zu meinen, es helfe der EU nur noch ein deutscher Geist, der dann in der Gründung einer politischen Partei mündete. Lautstark und professoral zogen Lucke und Henkel ins Europäische Parlament ein, vier Jahre danach war für beide bereits Exit. Was aus der politischen Idee geworden ist, wissen nun alle, aber war die Forderung der beiden Elitären genau so bescheiden wie ihre politische Bilanz im Parlament; mitnichten.
Die ist auch weiterhin virulent. Und die lautet: Konzentriert sich die EZB auf die Geldpolitik, wie es ihr Mandat vorsieht, oder betreibt sie in Wirklichkeit Wirtschaftspolitik? Und wenn das, was die EZB nun seit Jahren betreibt, Wirtschaftspolitik ist - und vielleicht sogar verkappte Sozialpolitik - , dann verletzt sie geltendes Recht, gleichwohl der Europäische Gerichtshof der Klage des Deutschen Verfassungsgerichts dahin gehend nicht folgend wollte und die Klage abwies. Gewissermaßen wie aus Mangel an Beweisen wurde die EZB und damit der Rat der Gemeinschaft freigesprochen, da ein Gericht nicht der richtige Ort ist, um eine Debatte über eine möglicherweise verfehlte Euro-Politik zu führen. War also die Euro-Politik verfehlt?
Die Antwort auf diese Frage betrifft ein weites Feld. Grundsätzlich aber war die Idee einer sich entwickelnden, politischen Gemeinschaft in Kombination mit wirtschaftspolitischer Autonomie ein Projekt, dessen Anlage man sich kaum schwerer vorstellen konnte. Gehen wir doch einmal davon aus, dass die politischen Institutionen Europas, vor allem der Rat ein, nach den Regeln der politischen Vernunft lernender Organismus ist, der im Jahr 2008, zwar kaum vorstellbar aber doch anscheinend nicht über die politischen und ökonomischen Grundrechenarten sowie über die notwendige Vorstellungskraft verfügte, wie dieses, an die Quadratur des Kreises grenzende Projekt zu bewerkstelligen sei, dann darf man heute durchaus einräumen, dass vieles sich in der EU verändert hat, aus Erfahrung in eigener Sache.
Natürlich spielen in die EU exterritoriale Kräfte und Mächte hinein, die die EU aus sich heraus, quasi allein kaum zu bewerkstelligen vermag. Vor allem die amerikanische, geostrategische Machtpolitik und das chinesische Modell eines expansiven Staatskapitalismus sind von europäischem Boden aus politisch wenig zu beeinflussen. Amerikanische Handelspolitik gegenüber China eben so wenig, wie der aufziehende Protektionismus in der US-Wirtschafts- und Geldpolitik.
Die Fragen, die uns am Anfang der Skizzierung eines sich dynamisch entwickelnden europäischen Modells beschäftigen können, sollten daher so eng wie möglich auch im politischen und wirtschaftlichen Einflussbereich der europäischen Institutionen gestellt werden. Und zun den europäischen Institutionen gehören nun einmal die nationalstaatlichen Institutionen aller Mitglieder der EU. An dieser Stelle sei im Vorgriff auf späteres kurz erwähnt, dass Fukuyama nicht müde wird, das europäische Modell bereits als gescheitert anzusehen und diesen Unsinn noch als Bestseller verkaufen kann. Wenn Fukuyama notorisch behauptet, Europa sei deshalb allein schon gescheitert, weil es keine europäische Identität gäbe, ja geben kann, dann sollte er mal Augen und Ohren aufmachen, dann würde er sich wundern, wie viele Europäer in Europa leben. Und wenn es ihm gelänge, seinen eigenen Verstand dabei noch zu nutzen, dann würde er gewahr werden, dass Identität keine einheitliche Kultur, kein einheitliches Denken, keine Religion oder sonst so etwas Grauenvolles ist. Natürlich kann sich ein Amerikaner kaum so etwas vorstellen, wie gleichzeitig Deutscher, Franzose, Italiener, Spanier, Pole usw. zu sein, siebenundzwanzig Nationen und unterschiedliche Kulturen, Sprachen, geschichtliche Erfahrungen mit zu bringen und gleichzeitig Europäer zu sein. Ein Kalifornier ist Amerikaner; c'est tout! Mexikaner sind Amerikaner oder Illegale; c'est tout!
Alexis tanzt
Die Euro-Einführung in Griechenland, erzählerisch behandelt, wäre ein Schelmenroman; honi soit qui mal y pense! Eine schelmische Erzählung einer modernen Tragödie aus Betrug und Verrat, Lebensfreude bis in den Selbstmord. Und am Ende steht noch die Lynchjustiz.
'Das Leben lieben und den Tod nicht fürchten' ist nicht nur das Leitmotiv des griechischsten aller modernen griechischen Romane: Alexis Sorbas, es ist das Leitmotiv der jüngsten Geschichte Griechenlands mit dem Regime der Obristen, das nach dem Putsch von 1967 das griechische Lebensgefühl in Gewalt und Unterdrückung erstickte. Geblieben war den Griechen die Furchtlosigkeit vor dem Tod.
Als nach 1974 die Junta die Regierungsmacht verlor, hatten die bis heute nachfolgenden Regierungskasten gelernt, sich hemmungslos aus der Staatskasse zu bedienen, ihre komplette Verwandtschaft in Staat und Wirtschaft unterzubringen und so einem einzigartigen Klientelismus in Europa zu frönen, der nur noch von der italienischen Mafia überboten wird. Die griechische Leitidee wurde zur griechischen Binsenweisheit: Alles, was man brauche, sei ein Offizier. Nachdem die Offiziere sind in Verwaltungsbeamte verwandelt hatten, galt das Wort "Fakilaki", kleiner Briefumschlag, für alles und jeden im privaten wie im Wirtschaftsleben.5
In der Zeit nach der ersten, freien Parlamentswahl nach dem Ende der Griechischen Militärdiktatur zwischen 1967 und 1974 und der Einführung des Euros im Jahr 2001 stieg das griechische BIP moderat, um ab 2001 steil anzusteigen bis zur Staatsschuldenkrise 2008, ab der es bis 2016 nur noch den Weg nach unten kannte. Das alles aber besagt wenig in unserem Kontext. Als Griechenland 1981 als 10. Mitglied in die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) aufgenommen wurde, musste es auf seine damals recht hohen Importzölle verzichten, die die heimischen Produzenten vor dem ausländischen Wettbewerb schützten. Zwar erhielt das Land einiges an Wirtschafts- und Strukturhilfen, aber das stärkte seine Wettbewerbsfähigkeit wenig.
Das Resultat war, dass ein deutlicher Rückgang der selbständig Beschäftigten zu verzeichnen war, der von 52 Prozent in 1981 auf unter 35 Prozent in 2008 fiel. Die Lücke wurde nicht durch lohnabhängige Erwerbsarbeit geschlossen und das Gesamtbild der griechischen Wirtschaft verzerrt durch die zunehmende Prosperität von großen Konzernen, die als Importeure von Gütern aus europäischen Partnerländern gerne gesehen wurden. Steuern zahlten diese Konzerne wenig und lediglich ein paar Jahre einer vorübergehenden Stimulierung der griechischen Wirtschaft und einem wirtschaftlichen Aufschwung, der hauptsächlich auf Staatsaufträgen beruhte, bescherte dem Land eine realwirtschaftliche Pseudoperspektive.
Griechenland hatte und hat außer dem Tourismus keine nennenswerte Exportwirtschaft. Es hatte und hat bis heute sogar ein riesiges Handelsdefizit im Agrarsektor, was jeden Tourist tagtäglich verwundert, scheinen die klimatischen Bedingungen doch ideal, jedenfalls noch besser als die in Israel, das aus viel weniger viel mehr an Agrarexporten macht. Man wundert sich, einige der Tomaten kommen aus Holland auf die griechischen Touristentische, raffiniertes Olivenöl aus Deutschland in die Pfanne und natives Olivenöl, ursprünglich aus Kalamata, mit italienischem Markenetikett auf den griechischen Salat und die holländischen Tomaten.
Was man auf seinen Frühstückstischen nicht serviert bekommt, ist der Kapitalimport, den Griechenland jahrelang nach der Einführung des Euro zu verzeichnen hatte. Ausnahmslos alle Volkswirte werfen Griechenland diesen Kapitalimport vor, insofern sie in ihm die Ursache der Krise Griechenlands sehen. Das liegt nahe.
Die europäischen Länder haben das Gros der Kapitalforderungen zu verantworten, vornehmlich Deutschland und Frankreich bzw. die Banken beider Länder. Selbst die USA waren bei der Kreditvergabe an Griechenland wesentlich zurückhaltender, alle anderen auch die europäischen Länder sogar noch mehr.
Für Griechenland war der Geldsegen wie ein später Marshallplan nach all den Jahren weit außerhalb der Marktwirtschaft, von der Griechenland so überhaupt nichts wusste, weder zu Zeiten der Monarchie noch bei den Obristen.
Der Monarch lebte von der Ausbeutung von Boden und Menschen, die Obristen, meist reiche Familien, ebenso. Nur die Offiziere und Staatsdiener hatten einigen Nachholbedarf und griffen selbst ordentlich zu, wo immer eine Kasse offen stand. Und der junge demokratische Staat tat ein Übriges. Die Lohnkosten pro Staatsbediensteten verdoppelten sich fast nach Angaben der OECD im Zeitraum von 1999 und 2008, stiegen um sagenhafte 7,6% pro Jahr. Die Lohnkosten je Beschäftigten beim Staat wuchsen im selben Zeitraum um 62% oder 4,5% p.a.; eine schöne Lohnsteigerung, weit über dem Durchschnitt in der Eurozone, ein kräftiger Schluck aus der Pulle und eine nie enden wollende Party.
Kein deutscher oder französischer Banker wollte gemerkt haben, dass allein die Lohnkosten beim griechischen Staat um mehr als 13 Prozent schneller wuchsen als die griechische Volkswirtschaft, die es gerade einmal auf 0,8% Wachstum p.a. brachte. Während die Lohnkosten in Deutschland im Zeitraum um etwa 15 Prozent stiegen, gelang den Griechen ein märchenhafter Wohlstandswachstum von 95 Prozent in den Privathaushalten.
Der Lebensstandard der Griechen erreichte im Jahr 2008 knapp 82% von dem der deutschen Erwerbstätigen und, wen wundert es, die Griechen gaben auch ordentlich Geld aus und zwar wieder verglichen mit der damals drittgrößten Industrienation der Welt etwa über 90 Prozent. Das Rentenniveau eines griechischen Durchschnittsverdieners erreichte im Jahr 2006 nach einer aktiven Erwerbszeit von nur 15 Jahren satte 111% des durchschnittlichen Nettoverdienstes in der aktiven Zeit. Im Vergleich dazu mussten deutsche Erwerbstätige 35 Jahre aktiv Beiträge zahlen, um auf einen Rentenanspruch von 61 Prozent des Nettoverdienstes zu kommen6 ; dem Kapitalexport der deutschen und französischen Banken sei Dank. Und natürlich mussten gerade diese Institute zuerst gerettet werden, als der griechische Staat unter der Schuldenlast zusammenbrach.
Die griechische Staatsverschuldung lag 2017 mit 323 Mrd. Euro bei 160% des BIP, das bei knapp 200 Mrd. Euro lag. Das war also das Ergebnis eines von Banken initiierten europäischen Marshall-Plans, eine Phantasmagorie "blühender Landschaften" Arkadiens. Stellen Sie sich vor: jeden Morgen klingelt es, Sie öffnen, und jemand hat Ihnen einen Sack Geld vor die Tür gestellt. Was tun Sie? Was tun Sie nach einer langen Zeit der Monarchie, in der Sie von feudalen Großgrundbesitzern beherrscht wurden, die auf ein vierhundert Jahre langes osmanisches Reich folgten? Ende des 19. bis hinein in das 20. Jahrhundert war das griechische Staatsgebiet ein Flickenteppich, der alle paar Jahre durch Krieg und Besatzung sein Aussehen änderte.
Als Griechenland den Euro einführte hatte es kleine Etuden der Marktwirtschaft erlernt, vor allem durch einige Jahre intensiver Wirtschaftsbeziehungen mit der BRD. Aber die Bürger Griechenlands waren eher arm, an der Demokratie wie an der Marktwirtschaft völlig unerfahren, was bis heute noch anhält. Die griechischen Wähler glaubten Jahrzehnte lang, dass erfolgreiche Neofeudalisten, einige von ihnen auch verehrte Freiheitskämpfer, die aber nie etwas anderes als ihren Vorteil im Sinn hatten, die besten Staatsführer seien; solche weitverbreitenden Irrglauben gibt es allerdings nicht nur in Griechenland. Selbst die USA hat darin Mehrheiten bei Wahlen.
Als Griechenland in die EU und die gemeinsame Währung aufgenommen wurde, übrigens nur durch die massive Intervention des damaligen Bundeskanzlers Kohl, erfüllte das Land wohl keines der Maastricht-Kriterien. Von einer Konvergenz, einer Übereinstimmung mit marktwirtschaftlichen Wirtschaften und eine auf demokratischen Institutionen aufgebauten Verwaltung des Staates war das Land weit entfernt und ist es in vielen Sachlagen auch heute noch.
Eine effiziente Steuerverwaltung gibt es bis heute nicht, Grundbücher, Katasterämter, Aufsichtsbehörden usw. müssen noch aufgebaut werden. Nicht nur die sog. Reichen des Landes beherrschen den Staatsbetrug. Steuerhinterziehung hat sich in Griechenland zu dem konstanten und ständig wachsenden Phänomen entwickelt, das verheerende Auswirkungen auf die öffentlichen Einnahmen und damit die öffentlichen Finanzen hat. Die nicht vorhandene Steuermoral ist eine der großen Krankheiten des Landes und die Steuerhinterziehung ihre chronische Ausprägung, die gleichsam der Volkssport der Griechen ist, neben Fußball, versteht sich.
Milliardenbeträge wurden und werden vorbei am Fiskus ins Ausland transferiert. Die Abgabenquote, d.h. die Summe aller Steuern und Sozialbeiträge im Verhältnis zum BIP stieg in den Euro-Ländern im Jahr 2012 auf 40,4 Prozent des BIP, in Griechenland lag sie 2012 bei 33,7 Prozent, also fast sieben Prozent darunter7 . Selbständige wie Ärzte oder Anwälte rechnen sich unkontrolliert regelmäßig arm, Taxifahrer, Handwerker oder Gärtner gaben nie gerne Quittungen und solche, die auf den lustigen kleinen Drahtfedermännchen auf den Touristentischen sich im sanften Abendwind wiegen, werden, nachdem der letzte Gast die Taverne verlassen hat, komplett in den Müll geschmissen.
Kein Wunder, dass die Summe der rechtskräftigen Steuerschulden in Griechenland Anfang 2016 auf den historischen Rekordstand von 85 Milliarden Euro gestiegen war, was etwa die Hälfte der derzeitigen griechischen Wirtschaftsleistung entspricht und zu den insgesamt 290 Mrd. Euro Staatsschulden eigentlich noch hinzugerechnet werden müssten, denn wer soll die wann, wie eintreiben.
6.000 Körperschaften wie Aktiengesellschaften und GmbHs stehen beim griechischen Fiskus mit weiteren 30 Milliarden Euro im Obligo. Allein die Griechischen Staatsbahnen (OSE) vergessen regelmäßig ihre rund 1,6 Milliarden Euro an Steuerschulden; aber Bahnfahren ist wie Busfahren billig in Griechenland und wird es wohl auch bleiben müssen.
Keine Regierung hat es auch nur annähernd bislang geschafft, die Steuerhinterziehung effektiv zu bekämpfen und eine funktionierende Verwaltung aufzubauen, Fakilaki sieht man allenorts. Bis heute gibt es keine effektive Finanzverwaltung, was schon erklärt, warum Griechenland bei seiner Aufnahme in die EU, sagen wir mal nur mangelhafte Statistiken über den griechischen Haushalt vorgelegt hat. Das passiert heute noch und wenn man liest, Griechenland macht wieder Schritte auf die internationalen Finanzmärkte zu und legt eine Steigerung des BIPs in Höhe von 2,4% vor, dann darf man die genaue Zahl hinter dem Komma durchaus anzweifeln.
Wenn Volkswirte heute höchst genaue Rechnungen vorlegen über den griechischen Schuldenstand und dessen Tragfähigkeit bis 2060 analysieren, dann bleiben solche Rechnungen in weiten Teilen nach wie vor schleierhaft, da der Vollzug des griechischen Haushalts bislang nicht wirklich überwacht wurde, weder von griechischen noch von externen Institutionen wie Eurostat oder der EU-Kommission und noch immer kein Außenstehender weiß, wie prekär die Lage im Land nun wirklich ist.
Griechenland ist auch heute noch ein Land in der EU, in dem die Korruption allgegenwärtig ist, beim Arzt, im Krankenhaus, auf dem Bauamt, in der Fahrprüfung; oft kommt man nur mit "Fakelaki", einem "Umschläglein" voller Geldscheine weiter. 13,5 Prozent der Griechen haben in einer Umfrage offen eingeräumt, Fakelaki zu zahlen, rund 1.450 Euro im Jahr. Das muss man beachten und zwar von zwei Seiten. Einerseits treibt es das Land in den Ruin, andererseits ist ohne Fakelaki kein "normales" Leben für die Bürger Griechenlands möglich.
In ihrem Bericht von 2017 stellt "Transparency International" fest, dass Griechenland beim Korruptionsindex auf Platz 94 von insgesamt 174 Ländern abgerutscht ist und damit innerhalb der EU-Länder den letzten Platz einnimmt, d.h. Griechenland hat die höchste Korruptionsrate in der EU noch vor Italien.
Führend in der EU ist die griechische Vetternwirtschaft. Die Einstellungspolitik im öffentlichen Sektor, hier als die Wirtschaftsbereiche: Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Erziehung und Unterricht, Gesundheits- und Sozialwesen adressiert, mittels Partei- oder Günstlingsnetze, hat in der griechischen Geschichte Tradition. Die Familien Papandreou, Karamanlis und Mitsotakis regierten in Griechenland, von einer siebenjährigen Militärregierung unterbrochen, seit dem Ende des 2. Weltkriegs.
Sie haben Griechenland mit einem dicht geknüpften Netz von Patronage und Vetternwirtschaft überzogen und unter dem Stichwort: Rousfet, Gefälligkeit, wurden Parteigänger in Griechenland mit Beamtenposten belohnt, versorgen Abgeordnete, Bürgermeister, Präfekten und Gemeindevorsteher ihre Wahlhelfer mit Arbeitsstellen inklusive Frührentengarantie. So war und ist der durch Vetternwirtschaft aufgeblähte öffentliche Dienst in Griechenland ist ein riesiges Problem. Während in Deutschland etwa jeder siebte Beschäftigte eine Anstellung oder als Beamter beim Staat hat, ist es in Griechenland jeder Vierte.
Das ist aus einer normalen Volkswirtschaft nicht zu finanzieren. In Griechenland akzeptierte der staatliche Arbeitgeber selbst in den ersten Krisenjahren zwischen 2008 und 2009 eine Lohnsummensteigerung im Sektor der Staatsbediensteten öffentlichen Sektor um insgesamt fast 20%, während im gleichen Zeitraum bereits die Lohnsumme durch die zur Massenarbeitslosigkeit hin steigende Wirtschaftskrise bis zum Jahr 2014 um knapp ein Viertel sank. Der öffentliche Sektor vollzog also die Krise im privaten Wirtschaftssektor überhaupt nicht mit; wie auch, wäre zur Massenarbeitslosigkeit doch ein großer Teil der Staatsbediensteten von etwa einer Million Beschäftigten hinzugekommen.
Und auch im Sektor Schattenwirtschaft zeigt Griechenland blühende Phantasien und einen beherzten Tanzstil.
Jeder vierte Euro wird schwarz erwirtschaftet. Das ist ein europäischer Spitzenwert, den eigentlich jeder bei Italien vermutet hätte. Geschätzt gehen dem griechischen Staat jährlich mehr als 30 Milliarden Euro Steuereinnahmen perdu. Benzinschmuggel, illegaler Kraftstoffhandel Spritpanscherei, im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, kaum ein Sektor bleibt von der Schattenwirtschaft verschont und selbst für das Jahr 2019, also noch vielen Besuchen der sog. Troika, wird noch immer ein Umfang der Schattenwirtschaft in Griechenland von über 19 Prozent des offiziellen Bruttoinlandsprodukts prognostiziert.
Die Erfahrung der Griechen mit der Marktwirtschaft und der Gemeinschaft souveräner Staaten hatten schon eine Menge an akademischen Humor, als Yanis Varoufakis, der über die Liste von SYRIZA ins griechische Parlament gewählt worden war und vom 27. Januar bis zum 6. Juli 2015 Finanzminister im Kabinett Alexis Tsipras war, die 28 Staatsoberhäupter der EU mit der Spieltheorie im Rucksack ein griechisches Modell bedingungslosen Geldausgebens des Staates als eine Entscheidung für die Solidität des Euro aufzutischen versuchte.
Varoufakis verteilt heute keine Wahlgeschenke mehr an die Griechen, aber haufenweise Bücher zur Spieltheorie und einem bemitleidenswerten, narzisstischen Schaden, den ihn die Staatschefs damals aus Unkenntnis und Ungläubigkeit ins Ego geschlagen haben; in Deutschland gehen seine Bücher sehr gut über den Ladentisch. Wahlgeschenke verteilt der Chef selbst und zwar üppig und unter den Augen der Troika. Mit 280 Mrd. Euro Schulden aus Sicht der öffentlichen Gläubiger, die ihre Zusagen mit entsprechenden für Reformen verbunden hatten, im Sparbuch, spricht Tsipras zu den Seinen von einer "Befreiung" und meint damit den Weg auf die Bühnen der Finanzmärkte, die Griechenland mit tänzelnden Schritten wieder zu betreten versucht. Die EU-Vertreter und der IWF sind enttäuscht und schockiert ob der ausgebliebenen Reformen und der finanziellen Freizügigkeit der griechischen Regierung.
Die zugesagten Reformen in der griechischen Finanzverwaltung, im Gesundheitswesen, in der öffentlichen Verwaltung sowie verschiedenen Privatisieren sind ganz oder überwiegen ausgeblieben. Es gibt keine Regelung für Privatinsolvenzen, was Investoren nicht gerade anlockt. Immer noch sind überschuldetet Wohnungs- und Hausbesitzer weitestgehend geschützt vor einem Besuch eines Beamten zur Zwangsvollstreckung. Kein Wunder, dass gerade diese Klientel sich geradezu ermuntert dazu sieht, Hypothekenkredite einfach mal nicht mehr zu bedienen, obwohl sie es vielfach könnten. Die Forderungen von Gläubigerinstitutionen und Banken nach einer Lockerung der Schutzbestimmungen privater Immobilienbesitzer mit dem Ziel, solche toxischen Kredite schneller abbauen zu können, läuft ins Leere. Die EU hat damit auch in Zukunft diesen ganzen Problembereich quasi im Gepäck.
Tsipras scheut natürlich unpopuläre Reformen. Aber unpopulär ist eine grandiose Verharmlosung der Situation. Griechenland ist pleite und das bis in hundert Jahren. Und jetzt im Wahlkampf verspricht der Premier der ältesten Demokratie der Welt, ohne überhaupt auch nur eine Absprache mit den Gläubigern, also den eigentlichen, zwischenzeitlichen Besitzern des griechischen Staates, zu treffen, die Einstellung mehrerer Zehntausend an Staatsbediensteten, erhöhte den Mindestlohn um 11 Prozent und annullierte eine bereits mit den Gläubigern vereinbarte und beschlossene Erhöhung der Mehrwertsteuer per ordre de mufti.
Der ESM, der die Bewilligung zugesagter Gelder an Griechenland steuert, kann, wie im Moment, Gelder aufgrund nicht getätigter Reformen zurückhalten und das sind beileibe keine kleinen Summen, ändern an der Situation in Griechenland kann er politisch nichts. Und das zeigt das Dilemma im europäischen Modell: bereits bei nur einem Land wie Griechenland liegen europäischer Anspruch und Wirklichkeit teilweise weit klaffend auseinander. Die Lebenswirklichkeit der Griechen und das sind ja europäische Bürger und nicht nur Griechen wie bei einem Drittland, diese Lebenswirklichkeit macht es unmöglich, schnell und effizient richtige Entscheidungen umzusetzen, sowohl für die Regierung wie die EU-Institutionen.
Wenn gleich auch die Rettungsschirme etwas zu spät installiert wurden, die EZB ihr Mandat überstrapazierte und hinter einer semantischen Verdunkelung staatliche Rettungspolitik in hohem Ausmaße begann, ist doch erkennbar, dass die EU bei aller ungerechtfertigten Schelte dem griechischen Staat sehr weit entgegen gekommen ist und die EU-Bürger, allen voran Deutschland und Frankreich in eine erhebliche Haftung für griechische Schulden genommen wurden.
Und die griechische Sozialpolitik wird auch weiterhin erhebliche Summen aus fremden Kassen benötigen, um griechische Rentnerinnen und Rentner in einem Rentensystem zu versorgen, welches sich Athen ohne zusätzliche Schulden nicht leisten kann. Während die EU durchschnittlich etwa 13 Prozent der Wirtschaftsleistung an die Rentenkassen überweist, sind das in Griechenland fast 18 Prozent8 . In Griechenland liegt die Durchschnittsrente bei 960 Euro, was 63 Prozent des Durchschnittseinkommens entspricht. In Deutschland zum Vergleich lag die Durchschnittsrente im Westen Ende 2013 bei 734 Euro und im Osten bei 896 Euro.
Folgte man den Analysen des IWF und von Sinn (2015), dann müssten die Löhne und Gehälter in Griechenland drastisch reduziert werden wie auch die Preise bei der Herstellung von Gütern und Halbzeugen und zwar in einem Ausmaß von mehr als 30 Prozent, wenn das genügte. Schaut man nur auf die Preise, sind das volkswirtschaftliche Phantasmagorien, denen politisch keine Realität entspricht. Sinn vergleicht die Preisentwicklung von Griechenland mit der von Irland und kommt so natürlich zu den Schlüssen, die sich aus dieser Perspektive aufdrängen. Griechenland hat im EU-Binnenmarkt keine nennenswerten Wettbewerbschancen, außer im Tourismus. Griechenland kann also die Vorteile stark reduzierter Löhne für die Herstellung exportfähiger Güter und Halbzeuge nicht erreichen, die dann eine Exportwirtschaft ermöglichte, die die Einnahmen des Staates verbessert und auch im Inland zur Substitution eingeführter Waren durch einheimische Produkte käme. Diese Idee einer florierenden Exportindustrie und eines binnenwirtschaftlichen Wachstums mit steigenden Beschäftigungsverhältnissen, besseren Löhnen und Gehältern ist in Griechenland leider nur möglich auf der Grundlage, dass das Land durch eine tiefe Talsohle jahrelang gehen müsste, deren Ausweg keiner kennt, nicht einmal garantieren kann, dass es einen gibt.
Was Sinn überhaupt nicht auf seinem Schirm hat, der einzig im Preisvergleich und Lohnsummenspiel der EU-Staaten sich bewegt, ist, dass Griechenland erstens gar nicht in der Lage ist, das irische Modell und à la longe das englische oder amerikanische Modell zu kopieren mit seinen beschönigend klingenden flexiblen Arbeitsmärkten, die wir eingehend beschrieben haben, mit seinen fast schon zu Tode getrampelten Gewerkschaften und damit von Tariflöhnen, Löhnen und Gehältern, die ein Gesundheits- und Rentenwesen menschlicher Würde garantieren, sondern allein auf der Basis von Lohnkürzungen, Billiglöhnen und Teilzeitjobs wirtschaftliches Wachstum ermöglichen, das als Wohlstand und gesellschaftliche Wohlfahrt immer weniger Menschen zugutekommt und die Spaltung in Arm und Reich vergrößert, die in Europa keiner will.
Was Sinn überraschenderweise völlig übersieht, ist, dass das irische Modell sein wirtschaftliches und Exportwachstum eben einem Steueroptimierungsmodell im Outsourcing internationaler Konzerne verdankt, die damals, als es Irland schlecht ging und die Löhne es hergaben, massenhaft Arbeit auf die Insel brachten, von wo sie im Preisdumping weltweit und EU-weit wiederverkauft wurden. Gerade in Deutschland agierende Unternehmen haben diese Chance kreiert und genutzt, Verwaltungen, Rechnungsabteilungen, Call Center etc. nach Irland zu verlagern. Später wurden daraus Steuervermeidungs- bzw. hinterziehungsstrategien, mit denen sich Donald T. heute frustriert herumschlägt.
Und was Sinn überhaupt nicht in den Sinn zu kommen scheint, da ist er regelrecht vernagelt für solche Themen, ist das Faktum der Spekulation, die auch schon bei den deutschen und französischen Banken als generöse Kreditgeber an den griechischen Staat im Fokus stand. Griechenland macht gerade einmal 2,6 Prozent des BIPs der gesamten Eurozone aus. Und es bleiben Fakten, dass das Land bei der Aufnahme in die Euro-Zone buchhalterisch sehr kreativ gewesen ist und die Statistiker der europäischen Behörde Eurostat seit Jahren an der Nase herum führt, willentlich oder ohne besseres Wissen, dass Griechenland auch enorme Schulden aufgehäuft hat und Reformen nicht durchführt wie vereinbart und theoretisch notwendig.
Die griechische Staatskasse aber so richtig erst belastet hat die Spekulation der Finanzmärkte gegen den Euro und damit vor allem gegen Griechenland. Sie trieb die Kosten für die Aufnahme neuer Kredite durch Griechenland an den Finanzmärkten dermaßen in die Höhe, dass Griechenland schließlich die Waffen strecken musste und selbst die Rettungsschirme der EU nicht ausreichten, dem Grauen an den Börsen ein Ende zu breiten. "What ever it takes" war das Menetekel von Draghi und der EZB, das dem Spuk ein vorläufiges Ende gesetzt hat und Griechenland in eine Schockstarre versetzte; aber es überlebte den völligen Zusammenbruch. Was immer man also auch gegen die EU ins Feld schickt, nichts davon hätte einen Sieg davongetragen, nichts wäre wirksamer gewesen, vielleicht etwas schneller. Die EU hat Griechenland nicht hängen gelassen und selbstverständlich war und ist niemand davon begeistert, auch nicht von den Aussichten in die Zukunft.
Herr Fukuyama versteht die europäische Identität nicht, weil für ihn Identität etwas Identisches ist, etwas Gleiches, etwas in Harmonie. Das gab es in den letzten fünftausend Jahren nicht in Europa. Hier ist alles verschieden, unterschieden, widersprüchlich, gegensätzlich, unvereinbar. Aber alles das ist Europa. Ein Deutscher ist ein Europäer und das ist keine Identität, die dazu kommt, wie etwas von außen. Identität ist; basta. Man ist Europäer als Deutscher, als Italiener, Grieche, Spanier und seit einigen Jahren wieder als Pole, als Slowene und alle die osteuropäischen Länder, die vor nicht allzu langer Zeit noch Teil der Sowjetunion waren. Man ist Europäer als eben diese Nicht-Identität, diese Unterschiede, diese Mannigfaltigkeit, von der die deutschen Identitätsphilosophen schlechthin sprechen, als etwas Gleichen in einem anderen, von Fichte, Schelling, Kant und Hegel, um nur ein paar von ihnen zu nennen - wir kommen später darauf zurück.
Die Straßen in Europa waren nicht voll von Protest und Tumult, als Griechenland unter die Rettungsschirme kam, anders als die Migration aus Syrien anwuchs. In Madrid geht man gegen die Rebellion der Katalanen und in Barcelona gegen die Anmaßung Kastiliens auf die Straße. Das Baskenland, Nordirland, der ehemalige Balkan-Konflikt, alles das gehört zu Europa wie die fast achthundert Jahre Islam in Al Andalus oder die knapp siebenhundert Jahre auf Sizilien.
Das europäische Modell als ein experimentelles, lernendes Modell tat sich anfangs schwer zu akzeptieren, dass Spekulation auf den Finanzmärkten ein Teil, ein großer, wichtiger Teil der Marktwirtschaft ist; H-W. Sinn tut sich noch etwas schwer damit, er ignoriert diesen Einfluss der Spekulation gegen den Euro in seinem neuen Buch (2015) schlichtweg.
Die Griechenland-Krise und die Euro-Krise gehören zusammen wie die Identitäten der Bürger der verschiedenen Staaten Europas. Über neun Prozent Rendite musste Griechenland im Jahr 2010 privaten Anlegern bieten, damit Athen seine Staatsanleihen auf den internationalen Finanzplätzen verkaufen konnte, um seinen defizitären Staatshaushalt refinanzieren zu können. Zwei Jahre zuvor waren es noch rund sieben Prozent und jeder Prozentpunkt mehr, den Griechenland an Zinsen zahlen muss, um Geld an den Kapitalmärkten aufzunehmen, verschärfte die angespannte Finanzsituation weiter, bis Griechenland nicht einmal mehr seine laufenden Staatsausgaben, vor allem die Gehälter für seine Staatsdiener bewerkstelligen konnte. Dann kam die Abstufung der griechischen Staatsanleihen durch die Rating-Agenturen auf "Ramschniveau" und danach gab es von Investoren nur noch Geld gegen exorbitante Zinsen; Griechenland war zahlungsunfähig, ein Schuldenschnitt überfällig, der Sirtaki getanzt.
Leben an den Ufern des Acheron
Die alte griechische Mythologie wie auch die Göttliche Komödie von Dante kennen die Grenze zwischen Leben und Tod als einen Fluss; genau genommen sind es fünf. Der Acheron markiert die Grenze zum Hades, der selbst gelegentlich als ein Fluss beschrieben wird, zur Unterwelt also, die die toten Seelen mit Hilfe des Fährmannes Charon, nach dem Empfang der Begräbnisriten und einer Geldmünze, dem sogenannten Obolus, den sie unter der Zunge tragen, überqueren können.
In Platons Phaidon werden die toten Seelen so beschrieben, dass sie einen "mittelmäßigen Wandel geführt haben" und über den Acheron zu einem See gelangen, in dem sie sich reinigen und ihre Verfehlungen abbüßen, bevor sie wiedergeboren werden. Gelegentlich wird Acheron auch als Synonym für den Hades selbst benutzt, an dessen Mündung der Sage nach ein Totenorakel stand; heute stehen darauf die Buchstaben SD.
SD bedeutet nach der Nomenklatur der Ratingagentur S&P: Offizieller Zahlungsausfall in einigen Bereichen und qualifiziert die Notwendigkeit eines Schuldenschnitts (auch Schuldenerlass), der die griechischen Staatsfinanzen im März 2012 ereilte.
Schuldenerlasse sind so alt wie die griechische Kultur. Bereits aus dem Jahr 594 v.Chr. kennen wir Details der Seisachtheia9 , die der athenische Staatsmann Solon in der Zeit einer schweren Krise Athens im Rahmen eines Reformprogrammes einführte. Demnach ging es bei der Reform des Solon darum, die sog. Hektemoroi10 , die sich hoch verschuldet und ihren Grundbesitz belastet hatten, vor dem Abgleiten in völlige Verarmung und Sklaverei zu bewahren. Ob es die Hektemoroi nun wirklich gab oder nicht, ist für uns nicht von Belang.
Von Belang aber ist, dass es Schuldenerlasse gab, die auch damals schon wenig Freude bei der Athener Bevölkerung aufkommen ließen, aus den verschiedensten Gründen. Und nicht nur die "Aristokratie" damals ging auf die Barrikaden, ist ein Schuldenschnitt ja immer auch eine verpflichtende Belastung, für die es im damaligen Athen keine zeitliche Begrenzung gab, wie dies heute wiedererscheint.
Damals in Athen wurde dem Schuldner eingeräumt, ein Darlehn über einen längeren Zeitraum durch regelmäßige Abgaben zu begleichen, wobei sich die Literatur uneins ist, über Art und Weise sowie über den rechtlichen wie politischen Stand bzw. Bewertung von Schulden. Einiges spricht dafür, dass mit der Ausrufung eines Schuldenschnitts aus den Bauern Hektemoroi wurden, was eine mildere Alternative zur Versklavung war, die eigentlich drohte.
Die Bibel erst, genauer im 5. Buch Mose, wird eine Schuldenbegrenzung der Zeit nach eingeführt, im sog. Sabbatjahr11 . Jedes siebte Jahr also sollte in Jerusalem ein Schuldenerlass ausgerufen werden, genau genommen musste alle sieben Jahre ein israelischer Gläubiger seinen Landsleuten die Schulden erlassen, nur bei Ausländern durfte die Schuld eingetrieben werden (5. Mose, 15, 7).
Ein Schuldenschnitt hatte also stets eine soziale und politische Komponente, insofern er Sklaverei und andere, mit den Schulden verbundenen, quasi innenpolitischen Verwerfungen abzuwehren versuchte. Das Konzept einer zeitlichen Begrenzung eine Zahlungsunfähigkeit galt daher nur innerhalb des Volkes Israel, nicht für ausländische Schuldner.
Das Buch Nehemia (5. Kap.) kannte den Schuldenerlass und sicherte den Schuldnern ihren Grundbesitz und zurzeit Jesu wurde das Datum des Schuldenerlasses mit der Verweigerung neuer Kredite verbunden. Die Schulden einzelner wurden also stets aus der Perspektive einer politischen und sozialen Einheit betrachtet. Es ging also nicht um Rache oder Strafe o.ä., sondern um eine Art Rehabilitation des einzelnen Schuldners und der Stabilisierung eines Gemeinwesens. Letztendlich trifft man bereits in der Antike den Gedanken der Globalisierung, hier des Handels als Kern der wirtschaftlichen Beziehung zwischen Ländern bzw. Gemeinwesen. Einem nackten Mann kann man nicht in die Taschen greifen, war damals einhellige Erkenntnis und jeder Versuch führte zu weitaus größeren Problemen, als die Schuldsumme und ihre bilateralen Konsequenzen.
Das Londoner Schuldenabkommen vom Februar 1953 war nicht nur die Entschuldung von etwa fünfzig Prozent der durch ausgebliebene Zahlungen des Dritten Reichs verursachten Schuldsumme von ca. 30 Mrd. DM und einer Restschuldvereinbarung, die der neuen BRD eine langfristige Umschuldung zu günstigen Bedingungen hauptsächlich durch die USA gewährt wurden. Es war der Beginn des deutschen Wirtschaftswunders und der Integration der BRD in die westliche Staatengemeinschaft, als der Kalte Krieg begann, die Welt in zwei atomwaffenstrotzende Lager zu zerteilen.
Am griechischen Schuldenerlass ist einiges anders. Schuldnerländer haben heute eine Reihe von transnationalen Bedingungen zu berücksichtigen. Griechenland kann als EU-Mitglied keine eigene Interventions- und Wechselkurspolitik mehr betreiben, aber durchaus für verbesserte Rahmenbedingungen für ausländische Direktinvestitionen sorgen. Es kann wenig dafür tun, dass das inländische Sparvermögen ansteigt, aber durchaus viel, um das staatliche Defizit zu senken. Es kann sich öffnen für verstärkte technische und finanzielle Hilfen im Rahmen verschiedenster Projekte und durch Deregulierung, da, wo es nötig und sinnvoll erscheint, zur Ausweitung seiner industriellen Kapazitäten und für Infrastrukturinvestitionen sowie für sozialpolitische Maßnahmen neue Räume bzw. Möglichkeiten zu schaffen.
Die internationalen Finanzmärkte haben Griechenlands Bonität als "Ramsch" zur Kenntnis zu nehmen und dessen Zahlungsfähigkeit als nicht gegeben. Aber als Teil der EU kann Griechenland auch heute noch seinen Zahlungsverpflichtungen durch die Rettungsschirme bzw. die Hilfspakte (EFSF und ESM) der Eurogruppe sowie des IWF nachkommen. Bilaterale Kredite von allen Euroländern außer der Slowakei, Irland und Portugal belaufen sich auf 52,9 Mrd. Euro, vom IWF stehen 31,9 Mrd. vom EFSF 130,9 und vom ESM 55,2 Mrd. Euro zu Buche. Hinzu kommen noch 66,5 Mrd. an nationalen Schulden12 , so dass die Summe bei insgesamt 337,4 Mrd. Euro liegt und damit weit über dem Limit, das die Tragfähigkeit der griechischen Schulden garantieren könnte.
Eine Schuldentragfähigkeit bei Staaten ist rechnerisch gerade noch vorhanden, wenn eine Schuldenquote unterhalb von 200–250 Prozent (bei Barwertkalkulation (Net Present Value; NPV)) der Staatseinnahmen, ein Schuldendienstdeckungsgrad unter 20–25 Prozent der Staatseinnahmen, ein Verhältnis der Schulden (NPV) zu den Staatseinnahmen von 280 Prozent und zusätzlich hohe Steueraufbringungsbemühungen (Steuereinnahmen/Bruttoinlandsprodukt >20 Prozent) nachgewiesen werden kann und das Verhältnis Schulden/Exporterlöse 150 Prozent nicht überschritten wird13
Betrachten wir Griechenland isoliert, dann läge es, gemessen an seinen Exporten etwa auf Platz 50 im Weltranking. Betrachten wir Griechenland nicht al ein EU-Mitglied aber aus der Kennzahl des Schuldendienstdeckungsgrades, dann zählte Griechenland zu einem der ärmsten Länder der Welt und würde unter die 1996 auf Betreiben der G-7-Staaten von Weltbank und IWF beschlossene Initiative zur Bekämpfung der Armut in der Welt fallen14 .
Als "arm und hochverschuldet" im Sinne von Weltbank und IWF gilt ein Staat, wenn das Bruttosozialprodukt pro Kopf unter 925 US-Dollar liegt und das Kriterium "hoch verschuldet" erfordert, dass die Auslandsschulden höher sind als 150% der jährlichen Exporterlöse oder mehr als 250 % der Staatseinnahmen betragen; das trifft bei seriöser Betrachtung alles auf Griechenland zu.
Wäre Griechenland also nicht ein EU-Mitglied würde es behandelt wie ein armes, hochverschuldetes Entwicklungsland. Betrachten wir die im EFSF und ESM vereinbarten Schuldendienste, die für die Eurogruppe zwischen 10 und 30 Jahren, für die beiden Hilfspakete auf 32,5 Jahre vereinbart sind, dann sprechen wir eigentlich über eine Schuldendienstentlastung, also den (fast) Wegfall von Zinsen und Tilgungen. Hinter dieser Form der Schuldendienstentlastung steht der Gedanke, dass ein Staat während einer nicht befristeten Bewährungszeit seine Konzepte zur guten Regierungsführung und Armutsbekämpfung tatsächlich erfolgreich umsetzen kann und auf diese Weise einen Teil bzw. langfristig betrachtet seine Schulden erlassen bekommt, als diese in einer Form von Ewigkeitsvereinbarung durch voraussichtliche Inflationierung von allein verschwinden. Das ist dann zwar semantisch kein Schuldenerlass, aber faktisch.
Allein, wie steht es im Falle Griechenlands mit der "Good Governance"? Die Erfahrungen mit staatlichen Schuldenerlassen in den letzten Jahrzehnten gibt eine ernüchternde Antwort: schlecht. Von einem Schuldenabbau gleich darauf zu schließen, dass Länder unter dem HIPC-Schild zu einer tendenziell guten Haushaltsführung gehen würden, hat sich in den meisten Fällen als Trugschluss erwiesen. Im Gegenteil haben arme, hochverschuldete Länder ihre Neuverschuldung eher ansteigen lassen, besonders indem sie, sobald als möglich, neue Kredite aufgenommen haben, um den Schuldendienst für die nicht erlassenen Altkredite aufrechterhalten zu können.
Einer aktuellen Untersuchung der Weltbank zufolge haben von den 26 Ländern, die bisher Schuldenerleichterungen erhielten, 12 Länder schlechte Aussichten, mittelfristig ihre Schuldentragfähigkeit auf einem nachhaltigen Niveau zu halten. Ein Schuldenerlass zielt eigentlich darauf ab, die Armut in den HIPC-Staaten zu verringern und das Wirtschaftswachstum zu verbessern; keines der Ziele ist je erreicht worden15 .
Griechenland steht nicht unter dem HIPC-Schirm. Und da Griechenland kein isolierter Staat, sondern ein Mitglied der EU ist, haben sich zwar die Bewertungskriterien von Weltbank und IWF nicht geändert, aber der Umgang mit den griechischen Schulden. Obwohl besonders der IWF stets betonte, dass die Tragfähigkeit der griechischen Schulden nicht gegeben ist und er aus den Hilfsprogrammen für Griechenland austreten wollte, gelang es durch hartnäckige Interventionen, besonders von Deutschland, den IWF contre Coeur im Programm zu halten.
Die Frage aber, die sich der IWF und alle an den Programmen beteiligten Eurostaaten stellen müssen ist und bleibt die Frage nach den Möglichkeiten, die Staatsfinanzen Griechenlands zu sanieren. Auch auf den zweiten Blick bestand dem IWF und der Weltbank diesbezüglich zur Folge keine Aussicht auf substanzielle Besserung. Warum also nicht den Forderungen von vielen Volkswirten nachgeben und Griechenland aus dem Euro lassen, damit das Land die dann wieder eingeführte Drachme abwerten kann, die Konsumpreise sinken wie auch Löhne und Gehälter und sich damit nicht nur der Binnenkonsum, sondern auch die Exportpreise dem harten europäischen Wettbewerb, vor allem durch die osteuropäischen und baltischen Staaten entziehen können.
Prima Vista klingt das überzeugend und es gab auch einen kurzen Zeitpunkt, da stand diese Idee im Raum. Sie wurde verworfen, weil damit dem Zerfall der EU Tür und Tor geöffnet worden wäre, ein winziges Rumpf-Europa wäre vielleicht übriggeblieben, das europäische Experiment am Ende. Und, so steht in Aussicht, wenn Griechenland zur Drachme zurückkehren würde, wäre der Wohlstandseinbruch durch den Währungswechsel sofort sehr drastisch und niemand könnte garantieren, dass der nicht noch einmal um mehr als die Hälfte konsolidieren würde. Griechenland hätte dann zwar nominell seine Wettbewerbsfähigkeit wieder, aber um den Preis, dass es dann erst recht und ohne gute Aussichten unter den HIPC-Schirm fiele. Was wäre denn gewonnen, wenn Griechenland auf Jahrzehnte eines der ärmsten Länder der Welt inmitten von Europa gelegen auf Hilfen von Drittstaaten, wahrscheinlich der EU, angewiesen wäre?
Anmerkungen:
1 Clemens Fuest, Johannes Becker : Der Odysseus-Komplex: Ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise. Hanser Verlag, München, 2017
2 Hans-Werner Sinn: Der Euro - Von der Friedensidee zum Zankapfel. Hanser, 2015, ISBN: 9783446444683
3 Bedingungen für den Beitritt zur Europäischen Union. 2019 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung.
4 Klausel der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU), die in Art. 125 AEU-Vertrag festgelegt ist und die Haftung der Europäischen Union sowie aller Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten einzelner Mitgliedstaaten ausschließt. Als Teil des Vertrags von Maastricht wurde die Nichtbeistands-Klausel als Art. 104b in den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) aufgenommen. Im Laufe verschiedener Vertragsreformen wurde die Klausel durch den Vertrag von Amsterdam zunächst in Art. 103 EG-Vertrag und schließlich durch den Vertrag von Lissabon in Art. 125 AEUV übertragen, der Wortlaut blieb jedoch weitgehend erhalten. Durch die Ergänzung des Vertrags von Lissabon um einen 3. Absatz zu Art. 136, der die Schaffung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ermöglicht, wurde die Nichtbeistands-Klausel eingeschränkt.(Wikipedia)
5 'Ein
Hotelier beantragt einen staatlichen Kredit. Er erhält eine
Absage. Anderntags kommt er mit einem befreundeten Major wieder. Die
Uniform macht's möglich: Der Kredit wird genehmigt. Honorar 5
Prozent.‘
“Ein Artillerie-Oberst wurde für
Genehmigungen in der Hotelbranche als Mister Zehnprozent bekannt.
"Als einige Skandale an die Öffentlichkeit kamen, wurden
sie durch ein Verjährungsgesetz vertuscht." Der Spiegel,
Nr. 28/1969, S. 77. und 49/1973, S. 118 f.
6 Vgl. OECD, Pensions at a Glance 2009, Paris. (2009), S. 121, S. 199 und S. 202
7 Quelle: eurostat 16.06.2014
8 Quelle: Eurostat 2014
9 altgriechisch σεισάχθεια 'Schuldenerlass'
10 Hektemoroi
(gr. ἑκτήμοροι,
"Sechstler"), waren Bauern, die ein Sechstel des Ertrages
als Pacht abgeben mussten oder nur ein Sechstel des Ertrages
behalten durften.
M. Meier hat die These vertreten, es habe die
Hektemoroi in Wahrheit nie gegeben; der Verfasser der aus dem 4.
Jahrhundert v.Chr. stammenden Athenaion Politeia habe seine
Vorlage falsch gelesen und durch dieses Missverständnis erst
die irrige Vorstellung in die Welt gesetzt, es habe einst Hektemoroi
gegeben.
Vgl. Mischa Meier: Die athenischen Hektemoroi –
eine Erfindung?. In: Historische Zeitschrift 294, 2012, S. 1–29.
11 5. Mose, 1-2. Das Sabbatjahr geht zurück auf die Felderwirtschaft, wonach ein Feld sich nach sieben Jahre erholt hat.
12 2012 wurden die Staatsschulden um 107 Mrd. € reduziert. Davon trug der öffentliche Sektor 66,5 Mrd und der private Sektor 40,5 Mrd € bei (Private Sector Involvement, PSI). Der Beitrag des privaten Sektors wurde jedoch gemäß dem 2. Memorandum von der griechischen Regierung zu 100% kompensiert. (Wikipedia)
13 Der
Begriff Barwert stammt aus der Finanzmathematik und
bezeichnet den Wert, den zukünftige Zahlungen in der Gegenwart
besitzen. Oder anders ausgedrückt: Der Barwert ist der
gegenwärtige Wert einer später fälligen
Forderung.
Die Barwertmethode rechnet Zahlungen, die zu
unterschiedlichen Zeitpunkten anfallen, auf einen bestimmten
Zeitpunkt um, indem sie den Zeitwert des Geldes berücksichtigt.
Dieser wird durch Abzinsung ermittelt.
Der
Schuldendienstdeckungsgrad oder auch
Kapitaldienstdeckungsgrad (engl. debt service coverage ratio, DSCR)
ist eine betriebswirtschaftliche Kennzahl, bei der je nach Art des
Schuldners den Kreditzinsen und der Tilgung bestimmte Einnahmen
gegenübergestellt werden. Hierdurch soll ermittelt werden,
inwieweit ein Schuldner imstande ist, Zins und Tilgung für die
aufgenommenen Kredite aufzubringen. (Wikipedia)
14 Die sog. HIPC-Initiative zur Reduzierung der Schuldenlast der hoch verschuldeten armen Länder (Heavily Indebted Poor Countries, HIPC)
15 Wilfried Herz: Der Fluch der guten Taten. In: Die Zeit, 7. Oktober 2004.
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